Einordnung der Berichterstattung vom Jahresbeginn zum Budapest-Komplex

Aktuell sind mehrere Antifaschist:innen von einer Auslieferung nach Ungarn bedroht. Während Maja in Untersuchungshaft Gabriele in Mailand und ein weiterer Genosse in Finnland in Hausarrest auf eine Entscheidung in den jeweiligen Auslieferungsverfahren gegen sie warten, wurde Anfang des Jahres die Kampagne „#NoExtradition – Keine Auslieferung von Antifaschist:innen“ gegen die drohenden Auslieferungen im Kontext des Budapest-Verfahrens gestartet.

Eine Woche nachdem die Kampagne gestartet wurde, begann Ende Januar am Budapester Stadtgericht der Prozess gegen drei Antifaschist:innen, welche angeklagt werden, an Auseinandersetzungen mit Neonazis rund um den sogenannten „Tag der Ehre“ 2023 in Budapest beteiligt gewesen zu sein. Der „Tag der Ehre“ ist ein internationales Großtreffen von Neonazis, welches jährlich in Budapest stattfindet und dem geschichtsrevisionistischen Gedenken an einen Ausbruchsversuch von Wehrmachtssoldaten und SS-Truppen kurz vor der Befreiung Budapests durch die Rote Armee dient. 

Bereits seit über einem Jahr sitzen unsere Genoss:innen Ilaria und Tobi in Untersuchungshaft in Ungarn. In den dortigen Haftanstalten herrschen zum Teil katastrophale Zustände. Ilaria berichtete in einem langen Brief von den harten Bedingungen ihrer Untersuchungshaft. Neben den inhumanen Haftbedingungen in ungarischen Gefängnissen, welche auch Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder das Helsinki Kommittee als menschenunwürdig verurteilen, sind die Beschuldigten aus dem Budapest-Verfahren in Ungarn mit Haftstrafen bis zu 24 Jahren konfrontiert, womit das erwartete Strafmaß um ein Vielfaches höher ist, als in Deutschland.

Auch wegen diverser Justizskandale und der Einschränkung der richterlichen Unabhängigkeit stand Ungarn schon mehrmals in internationaler Kritik. Erst kürzlich gab der ungarische Außenminister bei einem Rombesuch zum Besten, Ilaria sei „nach Ungarn gereist, um Unschuldige anzugreifen“. Er bezeichnete den Umgang mit Ilaria als angemessen, denn sie habe schwere Verbrechen begangen. Der Außenminister scheint sein Urteil also schon gefällt zu haben. Das ist nur eines von vielen Beispiele dafür, wie die ungarische Regierung Einfluss auf die Justiz nimmt. Angesichts dessen ist es nicht verwunderlich, aber trotzdem erschreckend wie in Ungarn eine massive Vorverurteilung der Angeklagten stattfindet und dort ein Schauprozess gegen die angeklagten Antifaschist:innen inszeniert wird. Die Vorführung der beiden in Ungarn Inhaftierten vor Gericht am ersten Prozesstag in Ketten sorgte europaweit für Schlagzeilen.

Während in Budapest der Prozess begonnen hat und Entscheidungen über die Auslieferungen der anderen Antifaschist:innen näher rücken, prägten vor einigen Wochen Interviews mit Eltern der Beschuldigten die Berichterstattung zu dem Verfahren. Diese machten auf die Kampagne gegen die Auslieferung aufmerksam und forderten ein Verfahren in Deutschland für ihre Kinder. Wir als Solidaritätskommittee unterstützen die Kampagne gegen die Auslieferung von Antifaschist:innen und schließen uns deren Forderungen an.

Wir möchten jedoch an dieser Stelle den Kontext des Budapest-Komplexes kurz einordnen und dabei auf die aktuelle Berichterstattung zu dem Verfahren eingehen. Die Repression gegen linke und antifaschistische Zusammenhänge hat sich in den letzten Jahren in Deutschland verschärft und zeigt eine klare politische Positionierung der deutschen Sicherheitsbehörden vor dem Hintergrund einer gesellschaftlich erstarkenden Rechten. Auch die Ermittlungen im Budapest-Verfahren wurden von Anfang an begleitet von einer Repressionswelle gegen die Beschuldigten und ihre persönlichen Umfelder.

Im letzten Jahr fanden bei Familienangehörigen, Freund:innen und Partner:innen der Beschuldigten, aber auch bei völlig Fremden regelmäßig Hausdurchsuchungen in diesem Zusammenhang statt. Auf Basis fadenscheiniger Indizien wurden hierbei ganze Wohnhäuser durchsucht, fanden SEK-Einsätze statt und wurden die Umfelder der Beschuldigten von Mitarbeitern des Verfassungsschutzes mit Anquatschversuchen belästigt. Mittlerweile hat der Generalbundesanwalt das Verfahren übernommen und es wird nach Paragraph 129 ermittelt, welcher alle Grenzen zur Wahrung der Privatssphäre zu sprengen vermag und den Behörden die rechtliche Grundlage bietet das Umfeld der Beschuldigten weiter umfassend zu durchleuchten.

Dieses Vorgehen soll anscheinend legitimiert werden, indem Vertreter:innen von Sicherheitsbehörden öffentlich immer wieder die vermeintliche Gefährlichkeit der Beschuldigten betonen und sie in die Nähe von Terrorismus rücken. Die durch bürgerliche Medien verbreiteten Namen, Gesichter und privaten Informationen der Beschuldigten sowie die Öffentlichkeitsfahndung von LKA Sachsen und Generalbundesanwalt gegen einen der Gesuchten stellen Antifaschist:innen als vermeintliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Insbesondere die sächsische SoKo LinX tut sich dabei mal wieder hervor, steht den ungarischen Behörden in diesem Verfahren tatkräftig zur Seite und greift ihnen bei den Ermittlungen gegen die beschuldigten Antifaschist:innen unter die Arme.

Die enge Zusammenarbeit mit den Behörden eines faschistoid regierten Landes wie Ungarn verdeutlicht die politische Motivation, die hinter den umfangreichen Ermittlungen und der Kriminalisierung antifaschistischer Zusammenhänge auch in Deutschland steht. Die Versuche der Soko LinX, die betroffenen Genoss:innen einzuschüchtern oder sie mit den harten Haftbedingungen in der ungarischen Untersuchungshaft und dem Szenario einer Auslieferung zum Verrat zu bringen, zeigen einmal mehr den Eifer des sächsischen LKA, was die Verfolgung von Antifaschist:innen angeht.

Die Haftbedingungen in Ungarn sind sicher nicht vergleichbar mit denen in Deutschland, doch auch hier sind Genoss:innen mit verschärften Bedingungen in der Haft konfrontiert, wie wir zuletzt an der Verlegung von Maja in Isolationshaft sehen konnten, welche über zwei Monate andauerte. Wir legen kein Vertrauen in den bürgerlichen Staat und ein Verfahren in Deutschland zu fordern ist deshalb, wie schon andere Genoss:innen so treffend auf den Punkt brachten, „zum Haare raufen“ (1). Doch wenn die Alternative die Auslieferung an ein faschistoid regiertes Land ist und damit noch deutlich härtere Haftbedingungen, eine konkrete physische Bedrohung für unsere Genoss:innen sowie ein vielfach höheres Strafmaß als das in Deutschland zu erwartende einhergehen, dann müssen wir versuchen diese zu verhindern. Denn man kann es nicht anders sagen, es ist das geringere Übel.

Eine Auslieferung nach Ungarn würde neben den oben genannten Folgen für die Beschuldigten auch eine solidarische Prozess- und Haftbegleitung erschweren.

Ein Gerichtsprozess, welcher sich in Ungarn über mehrere Jahre hinziehen könnte, die zu erwartenden hohen Haftstrafen und die weite Entfernung nach Ungarn würden einen immensen finanziellen Aufwand und die Bindung von Kapazitäten unterstützender Strukturen über Jahre hinweg bedeuten.

Verschiedenen Medien, die zum Budapest-Verfahren berichteten, war zuletzt zu entnehmen, dass sich einige der aktuell für die Behörden nicht auffindbaren Beschuldigten einem Verfahren stellen würden, wenn es eine Zusicherung gibt, dass dieses in Deutschland stattfindet. Den uns vorliegenden Informationen zufolge hat die damals noch dafür zuständige Generalstaatsanwaltschaft Dresden jedoch klar gemacht, dass sie eine solche Zusicherung nur gegen Geständnisse der Beschuldigten geben wollen. Der Versuch, über die Drohkulisse einer möglichen Auslieferung Geständnisse zu erpressen, während nach wie vor die Unschuldsvermutung gilt, schränkt die Verteidigung der Beschuldigten ein und zeigt wieder einmal, dass die deutschen Behörden Antifaschist:innen unbedingt verurteilt sehen wollen.

Diese Strategie seitens deutscher Behörden zeigt sich häufiger ebenso bei migrantischen Genoss:innen, indem die Drohung mit Auslieferungen oder Abschiebungen an autoritäre Staaten genutzt wird, um Verteidigungsprozesse in Deutschland zu verkürzen oder zu umgehen. Im Budapestkomplex steht dieser Erpressungsversuch doch sehr im offensichtlichen Widerspruch zu der in den letzten Monaten so häufig heraufbeschworenen und öffentlich durch Vertreter:innen von Sicherheitsbehörden wie auch den sächsischen Innenminister geäußerten Befürchtung, die gesuchten Antifaschist:innen würden sich im „Untergrund radikalisieren“ und müssten daher unbedingt gefunden werden.

Wir möchten die möglichen Entscheidungen von einzelnen Genoss:innen, die sich vorstellen können sich zu stellen dahingehend nicht bewerten. Stattdessen wollen wir betonen, dass wir sie in ihren Entscheidungen unterstützen. Wenn das heißt, dass sich Genoss:innen einem Verfahren in Deutschland stellen, dann werden wir sie im Prozess begleiten und sie in der Haft unterstützen. Es wird sicher gute Gründe für diese Entscheidung geben und wir trauen unseren Genoss:innen zu, dass sie diese mit Bedacht treffen. 

Angesichts der dargelegten Umstände sehen wir uns deshalb in der Position, die Forderungen der Kampagne „#NoExtradition – Keine Auslieferung von Antifaschist:innen“ zu unterstützen und fordern keine Auslieferungen nach Ungarn, egal ob aus Deutschland, Italien oder sonst einem Land. Wir fordern die Rücküberstellung von Ilaria und Tobi in ihre Heimatländer. Die Verfahren nach §129 müssen eingestellt werden.

Freiheit und Glück den Inhaftierten und Gesuchten, wir wünschen ihnen Kraft und gutes Durchhalten auf ihrem weiteren Weg!

(1) https://ea-dresden.site36.net/offener-brief-keine-auslieferung-nach-ungarn/